Der Jahresbeginn scheint mir der passende Zeitpunkt, einmal das Vorsatzpapier zu würdigen. Es einfach nur weiß zu lassen ist für mich eine fragwürdige Entscheidung. Oder ist dem häufig etwa gar kein Denkprozess vorausgegangen? Weiß als schieres Ergebnis der Vernachlässigung und Nicht-Würdigung eines wirkungsvollen Gestaltungsmittels?
Zusätzlich zur wichtigen Funktion, Verbindung zu schaffen kann das Vorsatzpapier dem hoffentlich gespannten Lesepublikum einen Einstieg in die Lektüre bieten, neugierig machen und einstimmen auf die Geschichte, den Sachverhalt oder andere wohlgewählte Worte. Wenigstens eine warme, irisierende, irritierende Farbe könnte als erster Anreiz die Synapsen zum Klingen bringen? (Ja, vorerst geht es hier um die Kunst der Buchgestaltung!)
Auf dem Papier für die guten Vorsätze für das neue Jahr könnte also auch stehen, beim Aufschlagen des nächsten Buches das Vorsatzpapier bewusst in Augenschein zu nehmen. In der Psychologie spricht man von Priming, wenn subtil unser Denken oder Handeln beeinflusst werden sollen – etwas Ähnliches könnte die Buchgestalterin also auch beim Design des Vorsatzpapiers gezielt einkalkulieren und nutzen. Im Gegensatz zum Erwachsenen-Buchmarkt wird interessanterweise im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur – gerade bei den Bilderbüchern – das Papier zwischen Buchdeckel und Buchblock quasi selbstverständlich zur Spielwiese der Designerinnen und Illustratoren. Da werden spaßige Ornamente aus einem Schweinebrüderpaar gebildet, spazieren Nildpferdbabyfußabdrücke über die Seiten oder es werden gar schon die Protagonisten der Handlung in verschiedenen Posen vorgestellt.
Zu meinen beeindruckenden Erstleserinnen-Erfahrungen in punkto Vorsatzpapier zählt ein 1958 veröffentlichtes Disney-Bilderbuch über das Eichhörnchen Perri, dessen Einstieg eine Landkarte mit allen beschrifteten Orten der Handlung zeigt. Ich erinnere mich, wie ich im Kinderzimmer auf dem Bauch liegend (das Buch hatte nahezu DIN A 3-Format) die Karte studierte und fasziniert die unversehrten Bäume betrachtete, die im Verlauf der Geschichte einem Brand zum Opfer fallen sollten, und mich jeden Mal das Grausen packte – auch wenn das Happy End (ja, DISNEY… gekillt wird zu Beginn!) vorausgesetzt werden konnte. Diese Vorsatz-Karte half mir auch beim Einordnen: wo der Kampf mit dem Marder stattfand, die Eule wohnte oder wo der hohle Baumstumpf zu verorten war.
Das Vorsatzpapier ist der ideale Platz, um gestalterisch Dinge mit Sonderstatus zu platzieren, die den Verlauf der Handlung unschön stören würden, aber nützliche Informationen bieten. Nicht für wenige umfangreiche Romane habe ich mir schon eine Liste der handelnden Personen oder einen Zeitstrahl gewünscht!
Tatsächlich finden sich in vielen Jugend- oder Fantasy-Romanen ähnlich wie bei »Perris Abenteuer« Landkarten an dieser Stelle, wobei allerdings für die Welt von Mittelerde definitiv mehr Platz benötigt wurde und in Tolkiens »Herr der Ringe« folglich ausfaltbare Landkarten eingeklebt werden mussten. Aber bei den meisten Romanen, Erzählungen oder Sachbüchern, die durch meine Hände gehen, finde ich ernüchtert ein gestalterisches Vakuum vor.
Also zurück oder voran zum Beginn des neuen Jahres: Als ausgewiesene Freundin von Listen konserviere ich eine nicht-papierne, ewig-gültige Version des Vorsatzpapiers irgendwo in meinem Hinterkopf, und die Punkte auf dieser virtuellen Liste sind wirklich seit Jahrzehnten dieselben. Auf den ersten Plätzen in wechselnder Reihenfolge: Mehr Gesundheitsvorsorge (Sport, Ernährung, Ihr wisst schon!), noch mehr Kunst (machen & gucken), mehr Kommunikation und Zusammensein mit lieben Menschen. Ich kann mich häufig nur auf eines fokussieren, aber immer in allem besser werden. Für das jetzt anbrechende Jahr nehme ich mir erneut vor, stark und aufrecht stehen zu bleiben, wenn die Wellen des Arbeitsalltags anrollen. Vielleicht kann ich es 2023 endlich mal vermeiden, allzu viel (Wasser) zu schlucken.
PS: Einer der beständigen Punkte auf der Kopf-Liste, seit ich eine Website besitze: Blog füllen. Das geht ja gut los!
Abbildung: © Delphin Verlag Zürich und Stuttgart 1959, »Perris Abenteuer« von Felix Salten/WaltDisney