Papierpost

»Auch die wahrsten Briefe sind meiner Ansicht nach nur Leichen, sie bezeichnen ein ihnen einwohnend gewesenes Leben, und ob sie gleich dem Lebendigen ähnlich sehen, so ist doch der Moment ihres Lebens schon dahin.«

Karoline von Günderode (1780-1806)

Urlaubspostkarten schreibe ich nur noch mit schlechtem Gewissen, denn da steht häufig nichts wirklich Relevantes drauf. Die Leute wissen in der Regel vorher, dass ich weg bin, die Infos über den Ferienort fänden sie online sehr viel objektiver und obendrein trudeln die mehr oder weniger geschmackvollen Ansichten von Sehens-und Merkwürdigkeiten oft erst nach der eigenen Rückkehr ein.

Glückwünsche zum Geburtstag oder zu anderen Fest- und Feiertagen werden von etwas weniger Selbstvorwürfen begeleitet, kann ich doch den Anlass als so wichtig deklarieren, dass papierne Post, die in der realen Welt von einem Ort zum anderen transportiert werden muss, gerechtfertigt scheint. Drücke ich zudem damit nicht aus, dass die »beschriebene« Person mir immens wichtig ist, wenn meiner Schreiblust sogar Bäume zum Opfer fallen? Äußerlich anlasslose schriftliche Lebenszeichen verfasse ich sehr viel weniger als früher, aber es kommt doch vor, dass eine innere Regung, etwas Zwischenmenschliches zumeist, mich zum Schreiben bringt, und dann gibt es manchmal – auch seitenweise! – kein Halten mehr.

Eine schnelle Internetrecherche bei verschiedenen Instituten und Organisationen zeigt mir ein Ergebnis, welches ich als leidenschaftliche Handschreiberin mir naiv anders erhofft hatte: Wenn man für den Mailkontakt doch erst mindestens zwei Computer herstellen muss, meilenweit Glasfaserkabel durch die Landschaft legen, Satelliten ins All schicken… da muss doch ein mit dem Grundporto ausgestattetes, winziges Briefchen, höchstens 23,5 x 12,5 cm groß, nicht dicker als ein halber Zentimeter, unter 20 g schwer (und vor allem: nur in Rechteckform!) die umweltfreundlichere Alternative sein? Leider nein, egal wo ich schaue: Die CO2-Bilanz der Mail, so sie denn an eine einzelne Person geschickt und nicht als SPAM weltweit rausgehauen wird, ist immer besser als die einer stofflichen Nachricht mit ordentlich gestempelter Briefmarke (ja, auch dieser Vorgang fließt bestimmt in die Klimabilanz mit ein!). Ups. Was mache ich denn jetzt? Meine auch für dieses Jahr schon geplante individuelle Weihnachtspost canceln? Überhaupt: sind meine Argumente, diese zu verschicken, nicht aus vielerlei Gründen längst obsolet, so dass es auf die Umweltfrage gar nicht mehr ankommen sollte?

Um es einmal mehr mit Linus von den Peanuts zu sagen, der nach Einschreiten der Mutter dann doch Wachstifte von seiner Schwester zugeteilt bekommt und realisiert, dass er »Schwarz, Weiß und Grau« bekommen hat: *Seufz*. Was mache ich denn jetzt? Bewusst Mutter Erde schädigen und weiter fröhlich Papier und andere Ressourcen verbrauchen? Und das ist ja erst die Spitze des schmelzenden Eisbergs: was ist mit meiner Kunst, der immer noch analogen, deren vehemente Verfechterin ich vermutlich bis an mein Lebensende bleiben werde?

A propos: Oben zitierte Dichterin suchte eben jenes freiwillig aus enttäuschter Liebe, und das obwohl – so ist es der nicht unbedingt für durchgängige Zuverlässigkeit bekannten Quelle Wikipedia zu entnehmen – »manche« sie als Verfasserin der schönsten Liebesbriefe in deutscher Sprache bezeichnen. Schön vielleicht, dann aber doch nicht zielführend genug, um in einer erfüllten Paarbeziehung zu münden? Wie das Zitat zeigt, hatte sie selbst wie ich zumindest Zweifel an der Kunst des Briefeschreibens, wenn jedoch aus anderen Gründen.

Die von ihr bemängelte Inaktualität der Inhalte hat sich allerdings bis zum heutigen Tag erhalten. Im Gegensatz zu ihr habe ich im einundzwanzigsten Jahrhundert andere Möglichkeiten, die ich selbstredend zu schätzen weiß. Wenn ich zeitnah Informationen weitergeben möchte, dann ist die Mail routiniert in jeglichem privaten oder beruflichen Zusammenhang das Mittel der Wahl, damit die Empfängerin nicht ewig auf simple Daten und Fakten zur Weiterverarbeitung warten muss. Flugs getippt, ebenso flott gesendet ist sie so effektiv wie (wie ich nun »leider« weiß) umweltfreundlich(er). Zugegeben: Noch besser wäre meine persönliche Bilanz, wenn ich nicht regelmäßig eine weitere Nachricht hinterherjagen müsste, weil ich den Anhang vergessen habe – aber ich arbeite dran, versprochen!

Woran mein sentimentales Schreiberinnen-Herz hängt: an der Unmittelbarkeit der persönlichen Handschrift (bitte wörtlich nehmen), die Gewissheit, ein Blatt in den Händen zu halten, das jemand für mich beschrieben, gefaltet und eingetütet, für das er oder sie sich Zeit genommen hat – was ich vielleicht vorab getan habe oder im Anschluss ebenso tun werde. Zusätzlich bietet sich die Möglichkeit, Zeichnungen einzufügen, die Zeilen mit typographischen Schlenkern und Experimenten anzureichern, die eine Wärme erzeugen, mit denen eine kalte Computerschrift nicht mitkommt. Ach Mensch, und ausgerechnet diese Wärme heizt jetzt unseren Planeten auf, verdammt!

Ich melde mich wieder, wenn ich einen Ausweg aus meinem kommunikativen Dilemma gefunden habe – für heute kann ich nur konstatieren, dass ich noch nicht ausreichend bereit bin, aufs Briefeschreiben komplett zu verzichten und schäme mich derweil ein bisschen. Andererseits: Was wäre uns entgangen, wären Literatinnen und Künstler wie Else Lasker Schüler (»Jussuf, Prinz von Theben«) und Franz Marc (der »Blaue Reiter« oder Fürst von Cana) schon im World Wide Web unterwegs gewesen? Hätte diese Poesie, hätten die wundervollen Zeichnungen auch als wechselseitige Postings funktioniert? Ich möchte das höflich anzweifeln…

Der abgebildete Postkasten aus Hamburg Ottensen hält mir mir gemeinsam tapfer durch und nimmt (noch) fleißig Post an. So beklebt, bemalt und ramponiert er auch aussehen mag – die Geburtstags-Gratulations-Dankeskarte (als Reaktion auf eine Mail, sorry!), die ich dort einsteckte, ist umgehend beim Empfänger angekommen. Ein Hoch auf die deutsche Post, so lange sie noch austrägt, bis wir das Post-Aufgeben aufgeben.

Der Postkasten in der Straße Bei der Reitbahn in Hamburg in voller Schönheit


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