»Kunst ist Revolte«
Jean Tinguely (1925-1991)
In meinem vorletzten Beitrag streifte ich am Rande die Definition von Kunst mit der Ankündigung, mich diesem Thema gesondert widmen zu wollen. Niemand wird ernsthaft erwartet haben, dass ich diese Gretchenfrage der bildenden Kunst kompetent und endgültig werde beantworten können, ich selbst am allerwenigsten…
Was mich allerdings umtreibt: Sie wird aus meiner Sicht allzu häufig falsch beantwortet, nämlich in Variation der folgenden Statements: »Kunst entsteht im Auge des Betrachters.« »Wenn die Künstlerin sagt, sie macht Kunst, dann ist es auch welche.« »Jeder Mensch ist ein Künstler.« (Selbstredend weiß ich, wer Letzteres gesagt hat, aber dazu später mehr.)
Im DuMont Verlag erschien im Jahr 2000 die von Andreas Mäckler herausgegebene Zitatensammlung »1460 Antworten auf die Frage: Was ist Kunst?« Auch das Eingangszitat des von mir sehr geschätzten Schweizer Künstlers ist dabei, und so kann sich jeder nach der Lektüre die für ihn zutreffende Definition auf ein Kissen sticken und zufrieden sein Haupt darauf betten: Frage beantwortet!
Ich stimme selbstbewusst in den Chor ein, indem ich meinen Erzeugnissen das Label »Kunst« verpasse… aber eben nur einem Teil davon. Der flott gemalte Mohn bekommt es nicht, nicht die lichtdurchflutete Landschaft oder meine Auftragsportraits. Meine Serie »Retrospektive« zum Beispiel hingegen schon.
Ach, und wieso? Ist doch auch nur handwerklich gute Ölmalerei? D’accord! Allerdings liegt hier ein Konzept zugrunde. Die akribisch gemalten Rückseiten von Keilrahmen tragen Titel wie: »Toskanalandschaft«, «Calla« oder (siehe Bildausschnitt oben) »Afrikanische Landschaft mit Giraffe«. Da entstehen doch Bilder! Richtig, das war Absicht. Die so oder ähnlich betitelten Gemälde hat man in variabler Qualität auf Hobbykünstlerausstellungen, in Rathäusern, Restaurants und Arztpraxen (und überall sonst, wo man als »kleiner« Künstler seine Kunst umsonst aufhängen darf) so oft gesehen, dass man sie auf der Stelle nicht nur vor Augen hat, sondern direkt nachmalen könnte, selbst mit wenig Talent.
Bevor jetzt meine sehr geschätzten Malschülerinnen im malerischen Dreieck springen: So böse wie das klingt, meine ich das gar nicht, im Gegenteil! Wie schon erwähnt unterrichte ich von Herzen gern. Ich wertschätze das, was meine Kursteilnehmer anfertigen, als das, was es ist – ohne es sofort KUNST (großgeschrieben!) nennen zu müssen. Zunächst einmal ist es hoch zu schätzendes Handwerk – den Schritt zur KUNST gehen tatsächlich später manche, aber eben nicht alle. Die Gemälde und Zeichnungen stellen allerdings einen wirklichen, eigenen Wert dar: Für die persönliche Fortentwicklung, für die Seele, die heimische Wanddekoration oder als Geschenk. Woher rührt der Zwang, das Ganze nur honorieren zu können, wenn das Etikett KUNST drangeklebt wird? Sind Künstler die besseren Menschen? Wollen wir deshalb unbedingt Joseph Beuys so verstehen, dass wir alle »Künstler« sind, weil dann endlich alle gleich toll und wichtig sind?
Im SPIEGEL von 1984 wird Beuys ein wenig präziser, was er mit seinem Satz gemeint hat: »Jeder Mensch ist ein Träger von Fähigkeiten […]. Er ist ein Künstler, ob er nun bei der Müllabfuhr ist, Krankenpfleger, Arzt, Ingenieur oder Landwirt.« Aha! Lassen wir das einmal sacken (und freuen uns nebenbei über die letztgenannte Berufsgruppe, die aktuell um Anerkennung ringt) und stellen fest: Jeder ist also in dem Bereich Künstler, wo er oder sie sich auskennt? Was sie gelernt hat? Wo er Expertise besitzt, Erfahrung und Fachwissen? Das ist doch mal eine Aussage, die mir einleuchtet. Gerade weil mir nicht nur während der Corona-Pandemie, sondern auch durch persönliche Erfahrungen im letzten Jahr vor Augen geführt wurde, welch großartigen Job alle im Bereich der Medizin und Pflege machen – und was sie können, was ich nicht kann. Als nicht-systemrelevant zu gelten fand ich damals zwar hart, hat mir aber unmittelbar eingeleuchtet.
Unendlich traurig finde ich deshalb die vielen geschönten Biografien, die mir auf Gruppenausstellungen im Laufe der Jahre begegnet sind, in denen beispielsweise Seminar und Malreisen zu »Kunststudium« und »Auslandsaufenthalten« umdeklariert werden (was leider durch kurze Internetrecherche direkt auffliegt) und erst Recht die – man muss es schon so nennen – Herabwürdigung von »studierten Künstlern« (indem man u.a. genau das tut: Anführungszeichen setzen). Tatsächlich habe ich mehr Respekt vor einer künstlerischen Leistung, wenn die Person, die es geschaffen hat, sich zum Autodidaktentum bekennt und nicht andere heruntermachen muss, um das eigene Tun aufzuwerten.
Das Werk steht doch für sich, befragen wir es also: Ist es Kunst, weil revolutionär, um auf Tinguely zurückzukommen? Hat man so etwas noch nie gesehen, steht ein Konzept dahinter, das nicht nur reproduktiv, sondern schöpferisch ist? Ist es neu, rührt es an, macht es etwas Unsichtbares sichtbar? Macht es im besten Sinne aufmerksam? Ist das Objekt nach Bejahung der einen oder anderen Frage KUNST, ist die Schöpferin eine Künstlerin, der Macher ein Künstler, so viel ist sicher.
Ich gebe zu: Damit habe ich die Frage »Was ist Kunst?« natürlich nicht ansatzweise beantwortet. Ich hoffe mir bleibt die Zeit, mich dem zu nähern – und vielleicht ist die Gültigkeit jeder Antwort ohnehin von vornherein zeitlich beschränkt. Hat doch Emil Nolde (1867-1965) behauptet: »Kunst ist im höchsten Ausmaß eine männliche Funktion.« Vermutlich die Definition mit der allerkürzesten Halbwertszeit und nicht sein einziger gedanklicher Totalausfall, wie hinlänglich bekannt sein dürfte.

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